"Meine Kindheitserinnerungen sind mein Zugang zu meinem verlorenen Paradies." Behjat Mehdizadeh lächelt, als ihr dieses Zitat des deutsch-syrischen Schriftstellers Rafik Schami einfällt. Ihr ganz eigenes Paradies begann für die heute 64-Jährige im Iran, wo sie ihre Kindheit verbrachte. Nach Deutschland hat sie vieles, was sie dort erlebte, mitgebracht. "Oft verweile ich in meinen schönen Erinnerungen. Auch um Kraft zu schöpfen für die Gegenwart." Irgendwann hat sie begonnen, ihre Erlebnisse aus der Vergangenheit schreibend festzuhalten. Für sich selbst und für andere. 2020 hat sie ihr Buch "Unter dem Tschador meiner Mutter" herausgebracht.
Die kreative Beschäftigung mit der eigenen Lebensgeschichte möchte sie auch anderen Menschen ermöglichen. Deswegen hat sie den Verein "Biographie und Erinnerung" gegründet, der durch das Amt für multikulturelle Angelegenheiten gefördert wird. Innehalten und zuhören seien heute kaum noch gefragt, "weder in der Familie, noch in der Schule oder auf der Arbeit", bedauert sie. "Diese Lücke möchten wir mit dem Verein schließen."
Dabei sei es ein menschliches Grundbedürfnis, anderen von sich zu erzählen – und gehört zu werden. "So lernen wir uns auf neue Weise kennen. Wir können besser nachvollziehen, wie wir zu der Person wurden, die wir heute sind", ist die Diplom-Sozialarbeiterin überzeugt. Was ihr erzählt werde, sei ganz unterschiedlich. Manche berichten vom Schulweg, einige arbeiten ihre Migrationsgeschichte oder Kriegserfahrungen auf.
Erfahrenes weitergeben
Mehdizadeh unterstützt mit ihren sanften Methoden andere, sich aktiv mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. "Oft beginnt die bewusste Erinnerung erst durch den Austausch über ein mitgebrachtes Foto oder ein Erinnerungsobjekt", erzählt sie. Vor allem für ältere Menschen sei ein Rückblick oft wichtig. "Nicht nur, um zu verstehen, was sie geschafft haben, sondern auch, um ihre Geschichten an jüngere Generationen weiterzugeben." Zu wissen, dass die eigenen Erinnerungen nicht verloren gingen, beruhige viele ältere Menschen. Ihr Verein böte keine Psychotherapie, doch habe das Erzählen oft eine heilende Wirkung. Biografiearbeit, wie man diese Form des Coachings nennt, helfe zu verstehen, wie wertvoll die eigenen Lebenserfahrungen seien. "Diese Wahrnehmung zu schaffen, darum geht es mir. Damit kann ich eine Tür für eine ganz intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit öffnen." Das erfordere viel Sensibilität und Empathie für das Gegenüber, sagt sie.
Auf welche Weise sich diese Tür öffnet, kann ganz unterschiedlich sein. "Wer möchte, erzählt seine Erinnerungen oder schreibt eine erlebte Geschichte auf. Manche zeichnen ein Bild, einige machen Fotos, um sich anderen mitzuteilen." Die Arbeit mit Gruppen ist für Mehdizadeh immer eine besondere Erfahrung. Dabei beobachte sie, dass andere Teilnehmende das Gehörte mit ihren eigenen Erfahrungen abgleichen. Sie berichteten dann von ähnlichen Erlebnissen. Das bringe die Menschen einander näher und mache sie füreinander interessant. Für die Beraterin ist vor allem dieser Austausch wichtig. Manchmal würden auch gemeinsam Kinderlieder gesungen. Diese Verbindungen könnten viel verändern.
Die Teilnehmenden gehen dann nach ihrer Meinung mit einem anderen Bewusstsein nach Hause. "Es ist ein Raum für alle Frankfurter:innen. Mir ist es wichtig, mit ganz verschiedenen Menschen zusammenzukommen. Vor allem mit denen, die sonst wenig Möglichkeiten haben, von sich zu erzählen oder meine Geschichten zu hören." In den Räumen des Amtes für multikulturelle Angelegenheiten wird sie am 23. April um 19 Uhr eine Lesung veranstalten.
Selten gehe es bei den Veranstaltungen um die komplette Lebensgeschichte. "Das eigene Leben lässt sich kaum in Gänze erzählen", sagt Mehdizadeh. Eher würden einzelne Lebensabschnitte thematisiert und von konkreten Erinnerungen berichtet – von der Kindheit, vom Aufwachsen oder von einzelnen Situationen. Dabei denkt sie auch an ihre eigene Geschichte zurück, die sie von Kerman im Iran bis nach Frankfurt führte. "Schon die Kindheit ist eine ganze Welt, ein Ozean – unendlich."
Maximilian Tribukait/Amt für multikulturelle Angelegenheiten
Dieser Artikel ist erschienen in: Senioren Zeitschrift (Ausgabe 2, 2022)